(Stand: November 2019)
Die Glykogenose Typ VI bzw. Morbus Hers (auch Glykogenose Typ 6, Glykogen-Speicherkrankheit Typ VI, engl. Glycogen Storage Disease VI, GSD VI) gehört zu den selteneren Glykogenose-Typen. Es handelt sich um eine Stoffwechselstörung, die in erster Linie die Leber betrifft.
Bei Typ VI sind die Symptome vor allem in der Kindheit oft sehr ausgeprägt, aber auch Erwachsene können sehr wohl Symptome zeigen.
Gut für die Betroffenen: Mit einer Ernährung, die auf die besonderen Bedürfnisse bei Glykogenose Typ VI ausgerichtet ist, kann das Auftreten der meisten Probleme verhindert und die allgemeine Lebensqualität der Betroffenen deutlich verbessert werden. Spätfolgen lassen sich vermeiden, die sich sonst auch bei vermeintlich milderen Fällen entwickeln können, zum Beispiel krankhafte Veränderungen des Lebergewebes.
Leider haben Betroffene und Eltern innerhalb der Selbsthilfegruppe Glykogenose Deutschland e.V. feststellen müssen, dass bezüglich Glykogenose Typ VI keine einheitlichen Behandlungsrichtlinien in Deutschland existieren und die Betroffenen von verschiedenen Kliniken teils sehr unterschiedliche Empfehlungen erhalten.
Aus Sicht der Familien ist das manchmal schade, weil von einer guten Ernährungstherapie selbst mildere Fälle sehr profitieren können: mehr Energie und Kraft, normales Wachstum, Normalisierung der Blutwerte und ein allgemein besseres Wohlbefinden.
Optimal eingestellt können die meisten Betroffenen ein normales Leben mit normaler Lebenserwartung führen, in dem aber die richtige Ernährung und Stoffwechseleinstellung eine wichtige Rolle spielt.
Bei der Glykogenose Typ VI arbeitet das Enzym Phosphorylase in der Leber nur eingeschränkt. Dieses Enzym spielt eine wichtige Rolle beim Abbau von als Glykogen gespeicherten Energiereserven. Ursache ist eine genetische Veränderung auf dem Gen PYGL.
Der Enzymdefekt in der Leber führt dazu, dass der Blutzuckerspiegel nicht lange aufrechterhalten werden kann. Normalerweise wird beim Gesunden nach einer kohlenhydratreichen Mahlzeit ein Teil der Energie in Form von Glykogen in der Leber zwischengespeichert. Wenn einige Zeit nach dem Essen der Blutzuckerspiegel sinkt, fängt die Leber an, das gespeicherte Glykogen langsam wieder abzubauen. So wird der Blutzuckerspiegel normalerweise stabilisiert. Erst nach längerer Zeit ohne Nahrungsaufnahme werden bei Gesunden andere Reserven mobilisiert, um nicht zu verhungern. Wenn jedoch das Enzym Phosphorylase in der Leber nicht funktioniert wie es soll, ist der Abbau der Glykogenvorräte in der Leber gestört. Bei den Betroffenen kommt es schon nach wenigen Stunden ohne Nahrung zu einem Hungerzustand, da die vorhandenen Vorräte nicht abgerufen werden können. Die Folge ist eine mehr oder weniger ausgeprägte Unterzuckerung in Kombination mit vermehrter Bildung von Ketonkörpern als Zeichen des Hungerstoffwechsels (Ketose). Im Hungerstoffwechsel werden nicht nur Fettreserven, sondern auch die Muskeln abgebaut und das Muskeleiweiß in Blutzucker umgewandelt (Gluconeogenese). Im Laufe der Zeit wird in der Leber übermäßig viel Glykogen, und aufgrund des Hungerstoffwechsels auch Fett, gespeichert.
Die Glykogenose Typ VI gehört wie auch die Typen 0, III, VI und IX zu den ketotischen Glykogenose-Typen. Sie werden so genannt, da es durch den rasch einsetzenden Hungerstoffwechsel schnell zur Bildung von reichlich Ketonkörpern kommt, was bei Gesunden erst nach längerem Fasten oder bei spezieller Diät auftritt.
Die Glykogenose Typ VI (Enzym Phosphorylase) hat eine klinische Überlappung mit der Glykogenose Typ IX (Phosphorylase Kinase). Früher wurde Typ IXa auch als Typ VIb bezeichnet. Nach neuerer Bezeichnung gibt es jedoch nur einen Typ VI, ohne weitere Unterscheidung von Subtypen.
Viele der betroffenen Kinder werden zwischen dem 4. und 18. Lebensmonat erstmalig auffällig. Bis zur richtigen Diagnose ist es aber manchmal ein sehr langer Weg und nicht alle Fälle werden jemals richtig
diagnostiziert.
Je nach individuellem Fall bemerken Betroffene oder deren Eltern einen durch die vergrößerte Leber vorgewölbten Bauch, Heißhunger, oder aber Appetitlosigkeit, Verdauungsprobleme, unruhigen Schlaf mit schweißiger Haut und morgendliche Übelkeit. Viele Kinder sind eher klein für ihr Alter. Die motorische Entwicklung kann verzögert sein. Typisch ist auch ein rundes „Puppengesicht".
Bei Blutuntersuchungen zeigen sich häufig erhöhte Leberwerte und erhöhte Blutfettwerte. Nach längerer Nüchternzeit ist der Blutzucker niedrig und die Ketonwerte im Blut sind erhöht. Bei einer Ultraschalluntersuchung fällt oft eine vergrößerte Leber auf.
Viele unbehandelte Betroffene haben allgemein wenig Energie und Ausdauer und sind muskulär eher schwach, obwohl es sich bei Typ VI um eine Leber-Glykogenose ohne direkte Muskelbeteiligung handelt.
Typische Symptome einer akuten Unterzuckerung sind beispielsweise Schwitzen, Herzjagen, Blässe um Mund und Nase, Heißhunger und Zittern. Außerdem können Konzentrations- und Verhaltensstörungen auftreten, die manchmal als Aggressivität oder Aufmerksamkeitsdefizit-Hyperaktivitätssyndrom (ADHS) fehlgedeutet werden. Bei sehr ausgeprägter Unterzuckerung können selten sogar Krampfanfälle und Bewusstlosigkeit auftreten.
Bei vielen Betroffenen lassen Unterzuckerungen nach der Pubertät aufgrund des abgeschlossenen Wachstums nach. Die Stoffwechselstörung besteht dennoch lebenslang: Auch Erwachsene können - unbehandelt - durchaus ausgeprägte Symptome zeigen und Spätfolgen entwickeln.
Die Bestätigung eines Verdachts auf Glykogenose Typ VI erfolgt inzwischen am besten über einen Gentest, für den lediglich etwas Blut oder Speichel benötigt wird. Eine Leberbiopsie kann somit vermieden werden.
Da andere Glykogenose-Typen zum Teil ähnliche Symptome aufweisen, bietet sich ein sogenanntes Genpanel an: Bei Einsatz des „Next Generation Sequencing"-Verfahrens können innerhalb weniger Wochen mehrere Gene gleichzeitig untersucht werden. Es sollten sämtliche Glykogenose-relevanten Gene sowie weitere mit Unterzuckerungen in Verbindung stehende Gene eingeschlossen werden. So können auch Mischtypen am besten erkannt werden.
Die Glykogenose Typ VI folgt dem autosomal-rezessiven Erbgang, daher sind beide Geschlechter gleich häufig betroffen.
Selbst bei einfachen (Über-)Trägern eines Gendefekts - laut medizinischem Lehrbuch sollte dieser Zustand eigentlich irrelevant sein - kann es zu Symptomen kommen.
In Deutschland existieren bisher keine einheitlichen Behandlungsrichtlinien zu den ketotischen Glykogenose-Typen, und neben dem nachfolgend vorgestellten Therapieansatz verfolgen Kliniken auch andere Ansätze, zum Beispiel fettbetonte (ketogene Diäten), Nicht-Behandlung milderer Fälle oder eine nächtliche Dauersondierung per Magensonde. Der beschriebene Behandlungsansatz basiert auf der Langzeit-Erfahrung großer internationaler Glykogenose-Zentren und viele Betroffene innerhalb der Selbsthilfegruppe haben sehr gute Erfahrungen damit gemacht:
Durch die Ernährungstherapie wird angestrebt, den Blutzuckerspiegel möglichst stabil zu halten. Gleichzeitig soll durch eine eiweißreiche Ernährung der erhöhte Proteinbedarf gedeckt werden, der durch die Verwendung von Eiweiß als alternativer Energiequelle entsteht.
Um Unterzuckerungen und einen ausgepräften Hungerstoffwechsel (Ketose) zu vermeiden, ist es wichtig, häufige kleine Mahlzeiten einzunehmen. Langsam verdauliche Speisen mit vielen Ballaststoffen, zum Beispiel Vollkornprodukte, sind zu bevorzugen. Die Aufnahme von Kohlenhydraten aus dem Darm kann zusätzlich durch gleichzeitigen Verzehr von Eiweißen und Fetten verzögert werden.
Gute Eiweißquellen, um den erhöhten Proteinbedarf abzudecken, sind zum Beispiel ungesüßter Magerquark, Skyr, Fisch, Fleisch oder Soja.
Nicht nur zu niedrige Blutzuckerspiegel sind zu vermeiden, sondern auch zu hohe, da der überschüssige Zucker sonst eingespeichert wird. Dadurch wird die Leber belastet. Ernährungstherapie wird meist empfohlen, die Menge vor allem an Einfachzuckern je Mahlzeit und Snack stark einzuschränken. Auch sonstige kohlenhydratreiche Lebensmittel wie Brot, Kartoffeln und Nudeln sollten begrenzt werden.
Ungekochte Maisstärke spielt eine wichtige Rolle in der Ernährungstherapie. Für viele zunächst überraschend: Es geht hier tatsächlich um handelsübliches „Mondamin" aus dem Supermarkt! Wenn die Maisstärke zum Beispiel in kaltem Wasser, kalter Milch oder Naturjoghurt aufgelöst und dann frisch eingenommen wird, wird diese sehr langsam verdaut und gibt ihre Energie nur allmählich frei. Dadurch
kann der Blutzucker erstaunlich gut stabilisiert werden, was vor allem nachts die tolerierbaren Abstände zwischen den Mahlzeiten deutlich verlängert.
Um den hohen Eiweißbedarf Tag und Nacht abzudecken, wird häufig zusätzlich ein Proteinpräparat werden. Viele Betroffene nehmen abends vor dem Schlafengehen, eventuell auch nachts und tagsüber ihre "Powershakes" aus Maisstärke und Proteinen zu sich.
Bei einigen Patienten kann eine modifizierte Maisstärke („Glycosade") statt handelsüblicher Maisstärke die nächtliche Nüchternzeit weiter ausdehnen. Bei jüngeren Kindern erfolgt die Freisetzung von Energie daraus aber eher schon wieder zu langsam, und nicht alle Betroffenen vertragen dieses Präparat gleich gut.
Die richtige Stoffwechseleinstellung sollte regelmäßig mit Messgeräten kontrolliert werden, wie sie auch Diabetiker verwenden. Nicht alle Geräte sind für die bei Glykogenosen eher niedrigen Blutzuckerspiegel gleichermaßen geeignet.
Es ist wichtig, nicht nur den Blutzucker zu messen, sondern auch die Ketonkörper im Blut, insbesondere vor den Mahlzeiten, am wichtigsten dabei morgens vor dem Frühstück. Ein normaler Blutzuckerwert alleine kann bei den ketotischen Glykogenose-Typen zu Trugschlüssen führen: Erhöhte Ketonwerte können einen Energiemangel bzw. eine vorherige oder drohende Unterzuckerung aufdecken.
Stoffwechselspezialisten und Ernährungsberater bitten häufig um detaillierte Ernährungsprotokolle über 2-3 Tage einschließlich Blutzucker- und Keton-Messwerten. Diese Daten dienen, neben den ärztlichen Untersuchungen und den weiteren Blutwerten, als Grundlage für eine Optimierung der Diät und führen zu konkreten Ernährungsempfehlungen sowie Anpassungen der Maisstärke- und Proteinmengen. Regelmäßige Anpassungen sind erforderlich, ganzbesonders bei Kindern und Jugendlichen aufgrund des Wachstums.Im Erwachsenenalter besteht wegen des sinkenden Energiebedarfes die Gefahr einer Überdosierung vor allem von Maisstärke, was zu Übergewicht und anderen Problemen führen kann.
Eltern und erwachsene Betroffene aus der Selbsthilfegruppe können bestätigen, dass sich unter einer solchen Ernährungstherapie nicht nur Blutwerte und Wachstum normalisieren, sondern auch viele Aspekte der allgemeinen Lebensqualität verbessern können: Betroffene berichten über mehr Kraft, Energie und Konzentrationsvermögen. Außerdem fühlen sie sich ausgeglichener, wenn der Körper nicht immer wieder an seinen Reserven kratzen und daher vermehrt Stresshormone ausschütten muss. Die Ernährungsbesonderheiten empfinden viele Betroffene als gut umsetzbar. Nebenbei wird auch ungünstigen Spätfolgen vorgebeugt.
Betroffene oder Eltern von Betroffenen stehen nach der Diagnose vor vielen Herausforderungen, um medizinische Erfordernisse, eine optimale Lebensqualität und möglichst viel Normalität unter einen Hut zu bringen.
Jeder Fall ist unterschiedlich. Bei vielen Details muss individuell im Alltag ausprobiert werden, wie man die Therapieempfehlungen am besten in die Praxis umsetzen kann.
Sehr hilfreich empfinden viele Familien dabei den Austausch mit anderen Betroffenen. Die Selbsthilfegruppe Glykogenose Deutschland e.V. bietet einen solchen Austausch an, unter anderem durch eine jährliche Tagung für Betroffene und deren Familien, bei der auch medizinische Vorträge und Workshops zu Typ VI und den anderen ketotischen Glykogenose-Typen stattfinden. Im jährlich erscheinenden Mitgliedermagazin Glykopost finden sich Zusammenfassungen unserer Tagungen und anderer Aktivitäten. Weiterhin existiert ein geschlossenes Online-Forum zu den Glykogenose Typen 0/III/VI/IX, über das ein schneller und informeller Austausch möglich ist.
Während die Selbsthilfegruppe sich ursprünglich eher an die schwereren Glykogenose-Typen (insbesondere Typen I und II) gewendet hat, finden immer mehr von den ketotischen Typen Betroffene und deren Angehörige den Weg in die Patientenvereinigung.
Die SHG Glykogenose Deutschland e.V. steht mit führenden Glykogenose-Experten in Deutschland und der ganzen Welt in Kontakt und kann Hinweise zu neuester Forschung und Expertenerfahrung geben.
Die hier veröffentlichten Inhalte wurden von Mitgliedern der Selbsthilfegruppe nach bestem Wissen und mit größter Sorgfalt erstellt. Sie dienen der allgemeinen Information.
Für die Richtigkeit, Vollständigkeit und Aktualität der Inhalte können wir jedoch keine Gewähr übernehmen. Alle individuellen Fragen zu Diagnose, Therapie und Verlauf müssen immer mit den betreuenden Ärzten und Ernährungsberatern abgestimmt werden.
Koordinatorin Glykogenose Typen 0, III, VI, IX (ketotische Typen), IPKH
Christiane Sackstetter
Telefon: 08102/806 045 9
E-Mail: sackstetter@glykogenose.de
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Vorlage zur Verwendung bei Ketotischen Glykogenose Typen
Vorlage zur Verwendung bei Ketotischen Glykogenose Typen
Präsentation mit Erläuterungen von PD Dr. med. Sarah Grünert (Uniklinik Freiburg)